Neuzeit - das 20. Jahrhundert
Rohfassung
Natürlich ist der Titel des Kapitels etwas provozierend, aber er kommt nicht von mir, sondern einem der renommiertesten Tibetologen: Der Tibetische Adel und Klerus hatte es weit länger als in Europa geschafft, die mittelaterlichen Strukturen des Landes aufrecht zu erhalten. Erst mit der Amtsübernahme des 13. Dalai Lama gab es nennenswerte Modernisierungsbestrebungen.
Die Herrschaft des 13. Dalai Lama
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es erstmals wieder dazu, dass ein Dalai Lama regierte: 1895 wurde er König von Tibet, da er anders als viele seiner Vorgänger „in der kritischen Phase der Machtübernahme einige Mordkomplotte“1 überlebte.
Er hatte allerdings nicht die alleinige Regierungsgewalt, da er sie mit dem Kashag (Ministerrat) und der – nicht gewählten – Nationalversammlung (Tibetisch: Tsongdü) teilte. Letztere repräsentierte die Machtzentren der Gelukpa-Klöster Sera, Ganden und Drepung sowie einflussreiche Adelsfamilien teilen musste.
Einleitend mag bei aller Kritik, die nun folgt, etwas bedacht werden. Ich leihe die Worte von Charles Bell, eines Zeitgenossen und Freundes des 13. Dalai Lama, der lange in Tibet lebte und 1927 schrieb:
»Manche mögen sich vielleicht fragen, wie die Herrschaft des Dalai Lama im Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Regierungschefs einzuschätzen ist. Doch ein solcher Vergleich wäre nicht gerecht, es sei denn, man geht mehrere hundert Jahre in der europäischen Geschichte zurück, als Europa sich in demselben Zustand feudaler Herrschaft befand, wie es in Tibet heutzutage der Fall ist. Ganz sicher wären die Tibeter nicht glücklich, wenn sie auf dieselbe Art regiert würden wie die Menschen in England; und man kann wahrscheinlich zu Recht behaupten, dass sie im Großen und Ganzen glücklicher sind als die Völker Europas oder Amerikas unter ihren Regierungen. Mit der Zeit werden große Veränderungen kommen; aber wenn sie nicht langsam vonstatten gehen und die Menschen nicht bereit sind, sich anzupassen, dann werden sie große Unzufriedenheit verursachen. Unterdessen läuft die allgemeine Verwaltung Tibets in geordneteren Bahnen als die Verwaltung Chinas; der tibetische Lebensstandard ist höher als der chinesische oder indische; und der Status der Frauen ist in Tibet besser als in beiden genannten Ländern.«2
Der Dalai Lama war sicherlich ein Reformer, der allerdings nicht immer den gewünschten Einfluss hatte. Wenn er auch versuchte das Land zu modernisieren, wie man an der später zitierten Unabhängigkeitserklärung sieht, hatte er es jedoch mit einem starken konservativen Lager zu tun, die den Status Quo aufrechterhalten wollte, da sie selbstverständlich von den feudalen Strukturen profitierten.
Britische und chinesische Invasionen
Da der Dalai Lama Kontakte mit dem Russischen Zaren aufbaute, sahen die Briten, das Machtgefüge im asiatischen Raum bedroht und sandten Younghusband mit einer 2500 Mann starken Armee aus ihrer indischen Kolonie nach Tibet, die das Land besetzte. Der Dalai Lama floh. Im August 1907 unterzeichneten die Briten und die Russen einen Vertrag, der den ersteren die Vormachtstellung in Tibet garantierte. Schließlich zogen die Briten ab, aber schließlich eroberten die Manchus erneut Lhasa „um einer neuen Britischen Invasion zuvorzukommen.“3
Im Oktober 1911 endete die Manchu-Dynastie. In Tibet kam es zu einem Aufstand gegen die chinesischen Besatzer, der Dalai Lama schickte aus dem Exil einen Minister, um diesen zu koordinieren. Er erklärte: „Wir müssen für unsere Religion und unsere Freiheit kämpfen!“4
Die Kämpfe waren blutig und dauerten bis Anfang 1912, als die Chinesen geschlagen und außer Landes gejagt wurden. Die tibetischen Minister, die mit ihnen kollaboriert hatten, wurden hingerichtet. Im Juni des gleichen Jahres konnte der Dalai Lama nach Lhasa zurückkehren, wo er drei Wochen später die Unabhängigkeitserklärung ausrief, die auch auf Reformen im Lande abzielte:
„Der Buddhismus muss in richtiger Weise gelehrt und gelernt werden. Mit Ausnahme einiger besonderer Persönlichkeiten ist es den Verwaltern der Klöster verboten, Handel zu treiben, Geld zu verleihen, jegliche Art von Geschäften mit Vieh zu betreiben oder fremde Untertanen zu unterwerfen.“5
Die Reformen scheiterten zum großen Teil am etablierten Klerus. Das System der Leibeigenschaft wurde zwar modifiziert und abgeschwächt, aber keinesfalls abgeschafft:6 Es wurde beispielsweise erreicht, dass Leibeigene nicht bewirtschaftetes Land, das niemandem gehörte, übernehmen konnten, wobei es im kargen Tibet sicher nur unfruchtbares Land brach lag. Man liest immer wieder, dass der Dalai Lama die körperlichen Verstümmlungen abschaffte, die als Strafe durchaus üblich waren. Wie wir im Fall des Ministers Lungshar sehen werden ist dies allerdings nicht richtig. Mir liegen keine Zahlen vor, aber es bleibt zu erhoffen, dass diese Praktiken unter dem 13. und 14. Dalai Lama wenigstens eingeschränkt wurden. Sicherlich fehlte es den Dalai Lama an Druckmitteln um seine Reformen gegen die konservativen Kräfte im Lande durchzusetzen. Angesichts der immer wieder drohenden Angriffe seitens der Chinesen, aber auch im Bewusstsein der Tatsache, dass ein Land ohne Exekutive nicht regierbar ist, machte er sich an ein weiteres großes Projekt: Die Modernisierung und Vergrößerung der Armee, die er nach britischem Vorbild aufbauen wollte. Dies handelte ihm aber erneut den erbitterten Widerstand des Adels und des Klerus ein, da er hierfür den Klöstern und den Großgrundbesitzern neue Steuer auferlegte.
Um ihren Widerstand zu schwächen verhaftete der Dalai Lama drei Äbte des riesigen Klosters Drepung.7 Das war zuviel für deren Mönche, die zu Tausenden sich auf den Weg zum Sommerpalast des tibetischen Staatschefs, dem Norbulingka, machte. Sie stürmten ihn, protestierten lautstark, rissen Blumen aus und defäktierten in den Garten, während der Dalai Lama in meditativer Ausgeglichenheit in Retreat verweilte.8 Seine Ausgeglichenheit dauerte aber nur bis zum darauf folgenden Tag, als er seine Truppen anwies, Drepung zu belagern. Angesichts der Übermacht ergaben sich die Rebellen und ihre Anführer wurden nach Lhasa gebracht und dort bestraft.9
Der Dalai Lama setzte auch den Pantschen Lama unter Druck, indem er Tashilungpo stark besteuerte, weswegen dieser das Land 1923 verließ.10
Neue Konflikte in Kham
Einer der größten Gelukpa Gelehrten seiner Zeit war Pabonka Rinpoche, der an der Mönchsuniversität des Klosters Sera studiert hatte. Er war ein begnadeter Redner und fand bald auch unter den Laienpraktizierenden viele Anhänger. Er war glühender Verfechter der Rangtong-Philosophie, die ja schon in früheren Jahrhunderten den Vorwand für die Verfolgung anderer Schulen geliefert hatte. 1933, kurz nach dem Tod des Dalai Lama, beschloss er, Kham zu missionieren, da seine Gelukpa-Schule dort in der Minderheit war. Er überzeugte erfolgreich Nyingma-Klöster zu den Gelukpas zu konvertieren und es gibt Berichte, dass sie Statuen Padmasambhavas vom Schrein rissen und Nyinmapatexte in die Flüsse warfen.11 Als Pabonka sich aber mit einem chinesischen Eroberer und Drogenhändler zusammentat, der Kham angegriffen hatte, verlor er schnell wieder die Sympathien der Menschen in Kham und das Misstrauen gegen die Zentralregierung wuchs erneut.
1 Zitat: Kollmar-Paulenz 2005.
2Sir Charles Bell, »Der Große Dreizehnte: Das unbekannte Leben des XIII. Dalai Lama von Tibet, Bastei Lübbe 2005, S. 546
3Schaik 185
4Bell nach Schaik, S. 191
588 The Dalai Lama's 1913 proclamation 171
TSEPON W. D. SHAKABPA (trans.)
6Siehe Goldstein, Meryl : A History of Modern Tibet, 1913–1951
7Bei MacKay ist die Sprache von Kooperateuren, die verhaftet und öffentlich ausgepeitsch wurden, da sie 1910-1913 mit den Chinesen zusammenarbeiteten.
8Goldstein: A History of Modern Tibet, 1913-1951, S. 106.
9Nach: M. C. Goldstein (with the help of Gelek Rimpoche), A History of Modern Tibet, 1913-1951: The Demise of the Lamaist State, Berkeley: University of California Press, 1989, S. 105
10Goldstein, ebenda, S. 112.
11Schaik 202. Pabonka war Dorje Shugden Praktizierender, eine Gottheit, die heutzutage von vielen als Dämon bezeichnet wird (der 16. Karmapa, Dilgo Khyentse und der 14. Dalai Lama lehnten diese Praxis ab).