Vielleicht kein Land auf der Welt ist derart Opfer unserer Hoffnungen, Verklärungen und positiven Projektionen geworden, wie dieses Land auf dem Dach der Welt: Ein wunderbares Land - ein Paradies auf Erden! Ein Shangri-la!* Alle waren ethisch handelnde Buddhisten, jedes Kind hatte nichts anderes im Sinn, als das Mantra "Om Mani Padme Hum" zu rezitieren und es gab keinen Krieg, alles war harmonisch auf die Erleuchtung ausgerichtet!
Es ist wahr – kaum ein Land auf Erden hat so viele erwachte Meister hervorgebracht. Und tatsächlich war der Buddhismus in beispielloser Weise in der Bevölkerung verankert. Aber leider irrt sich der oben karikierte und aus dem Überdruss des westlichen Materialismus genährte Romantizismus: Durch das System der bewusst wiedergeborenen Lamas, das Tulku-System, entstand auch eine neue klerikale Schicht, die über die Jahrhunderte in wachsendem Maße mit weltlichen Machthabern, dem Adel und den reichen Familien des Landes verwoben und damit politisch war. Glücklicherweise traf das nicht für alle Meister zu, denn bis heute gibt es viele, die wirklich ohne jegliche weltliche Belange praktizieren - all die Meister, die in Büchern wie den Erzählungen von Tulku Urgyen Rinpoche (Blazing Splendor/Strahlende Vollkommenheit) auf inspirierende Weise beschrieben werden.
In dem hier vorliegenden Text geht es also eher um die Kehrseite der Medaille, die dunkle Seite dieses Landes, das, wie manche sagen, vor der chinesischen Invasion die "letzte Hochkultur" des Planeten war: Es geht um die Verstrickung von religiöser und politischer Macht und die kriegerischen Allianzen, die Tibet mit seinen Nachbarn schmiedete, die wiederum zu neuen Abhängigkeiten führten. Intern blühten Intrigen. Karlheinz Deschner hat die "Kriminalgeschichte des Christentums" verfasst, und man könnte hier von der "Kriminalgeschichte des Tibetischen Buddhismus" sprechen. (Zur guten Seite der Medaille siehe auch:Karma-Kagyü-Meister und das Leben des 16. Karmapa.) Der Kagyü-Geluk-Konflikt ist nicht ohne den weiteren geschichtlichen Kontext des Landes zu verstehen, weswegen in groben Zügen die Entwicklung Tibets allgemein beleuchtet wird...
Vorgeschichte: Das 12.-15. Jahrhundert Hier geht es hauptsächlich um die politischen Allianzen, die zu der Polarisierung zwischen den verschiedenen Machtzentren des Landes führten.
Die Konflikte eskalieren Während die Repressalien des Königs von Tsang gegen die Gelukpas zunehmen (der König unterstützte die Karma Kagyü Schule, ohne dabei die Unterstützung seiner Lamas für sein kriegerisches Treiben zu haben), holen die Gelukpas die Mongolen ins Land.
Die Herrschaft der Dalai Lamas und die Vertreibung Karmapas Mit dem Aufstreben der Gelukpas kommt es zum Krieg, der die anderen Schulen jeglicher politischer Bedeutung beraubt. Der 10. Karmapa muss ins Exil. Die Kagyü- Nyingma- und Sakya Schulen werden ihrer Klöster beraubt, die sie später allerdings zum Teil wieder bekommen. Die Jonang Schule wird gänzlich an die Randbereiche Tibets vertrieben. Es kommt zum neuen Status Quo: Die Dalai Lamas – oder genauer gesagt meist deren Regenten – regieren das Land, bisweilen mit Einmischung seitens ihrer mongolischen und später chinesischen Verbündeten.
Das 18. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert beginnt in Tibet politisch damit, dass der Sechste Dalai Lama weder dem Mönchstum noch der Politik zugeneigt ist. Es kommt zu neuen mongolischen und chinesischen Interventionen. Der Pantschen Lama wird zweite wichtige Macht im Lande.
Nepalesische Invasion und Verbot der Shamarpa-Inkarnationsreihe Politisch spielen die Kagyüpas keine Rolle mehr, mit Ausnahme eines Zwischenfalls, in dem der Shamarpa beschuldigt wird, eine nepalesische Invasion im Lande unterstützt zu haben. Historische Quellen zeigen, dass diese Annahme mehr als fragwürdig ist.
Die nicht-sektiererische Rime-Bewegung Spirituell kommt die Kagyü-Schule im 19. Jahrhundert wieder zu neuer Blüte – besonders in Ost-Tibet, wo der Einfluss der Zentralregierung gering ist. Darüber hinaus bereichert die nicht-sektiererische Rime-Bewegung, die hauptsächlich von den Kagyü-, Nyingma- und Sakya Schulen getragen wird, das Land spirituell und bewahrt viele Praktiken und Übertragungen für künftige Generationen.
Neuzeit - das 20. Jahrhundert Erst im 20. Jahrhundert kommt es zu nennenswerten Reformbestrebungen im Lande. Der 13. Dalai Lama verkündet eine Bulle, in der er Leibeigenschaft und Handel seitens der Klöster verbietet, die allerdings nur ansatzweise umgesetzt wird. Er scheitert an dem Widerstand des Klerus und Landadels, u. a. da er diese besteuern will, um eine moderne Armee nach britischem Vorbild aufzubauen.
Das Verhältnis zwischen Kagyüs und Gelukpas zu Lebzeiten des 16. Karmapa Bereits die Anerkennung des 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje wurde von politischen Erwägungen verzögert. Der Sohn des tibetischen Finanzministers sollte als 16. Karmapa inthronisiert werden, um seinem mit Unterstützung des Dalai Lama verfolgten Reformkurs zu stärken. Nach dem Tod des falschen Kandidaten konnte glücklicherweise die wirkliche Wiedergeburt, Karmapa Rangjung Rigpe Dorje, inthronisiert werden. Mit der Invasion der Chinesen rücken die verschiedenen Schulen zusammen. Karmapa reist im Auftrag des 14. Dalai Lama nach Kham, um die dort ausgebrochenen Unruhen zu schlichten. Kurz vor dem Volksaufstand im März 1959 warnt er das Staatsoberhaupt, dass es Zeit sei, das Land zu verlassen und flieht ins Exil. Im Exil kam es zu Bestrebungen innerhalb der Exilregierung, die Schulen des Tibetischen Buddhismus zu zentralisieren, die die anfänglich sehr guten Beziehungen zwischen dem Dalai Lama und Karmapa etwas trüben.
Anmerkung: Die Literaturangaben verweisen auf die Titel in der Literaturliste
*Blauer Text ist wie üblich ein Link, bitte einfach draufklicken.