Der Dalai Lama wird weltliches und spirituelles Oberhaupt Tibets
Gushri Khan hatte also den Dalai Lama zum spirituellen und politischen Oberhaupt von ganz Tibet ernannt[1], von Tatschienlu[2] (Kham) bis zur Ladakhischen Grenze, wobei ein Teil der Macht jedoch bei Gushri Khan blieb. Die politische Verwaltung wurde in die Hände Sönam Tschöpels gelegt, der zum Desi, dem Equivalent eines Premierministers, ernannt wurde:
„In einem Rechtsdokument aus dem Jahr 1653 wird deutlich, welche Rolle dem Dalai Lama in dieser Dreierkonstruktion zukam. Er war sowohl dem Regenten als auch dem mongolischen Herrscher übergeordnet. Damit war die rechtliche Grundlage für die weltliche und geistliche Herrschaft des Dalai Lama gegeben. (...) Die Autorität des Dalai Lamas (…) war anscheinend so groß, dass Lhasa im 17. Jahrhundert zu einem der wichtigsten politischen Zentren in Asien wurde.“ [3]
Der Dalai Lama wurde sogar die Instanz, die den Ehrentitel Khan verlieh:
„Wenn die Mandschu-Herrscher im 17. Jahrhundert den Titel ‚Khan‘ an verschiedene mongolischen Fürsten verliehen, bestätigten sie damit nur nachträglich die vom Dalai Lama zuvor vergebenen Titel.“[4]
Nebenbei bemerkt ist es schon erstaunlich, dass ein mongolischer Eroberer dem Dalai Lama Funktion und Titel gab, die ihm selbst im Exil noch von vielen zugesprochen werden: Die des nicht nur weltlichen, sondern eben auch spirituellen Oberhauptes der Tibeter und sogar des tibetischen Buddhismus![5]
Niederschlagung von Aufständen
Schließlich kam es zu Aufständen in Kongpo (Süd-Tibet) gegen die neuen Machthaber, die von Anhängern Shamar Rinpoches angeführt wurden. (Der zu diesem Zeitpunkt noch sehr junge Siebte Shamarpa, Yeshe Nyingpo (1631–1694), lebte im weit entfernten Kham (Ost-Tibet), weswegen er nicht mit der Revolte in Verbindung gebracht werden kann). Die Allianz aus mongolischen und Regierungstruppen aus Lhasa marschierten ein, brandschatzten und brachten 7000 Menschen um. Da die Aufständischen der Karma-Kagyü-Schule angehörten, schickte der Dalai Lama Karmapa, der bei Yam Dur in Tsang sein großes Zeltlager, das Gartschen, aufgeschlagen hatte, einen Brief, in dem er ihn aufforderte, sein Ehrenwort zu geben, dass die Kagyüs die Gelukpas nicht angreifen würden. Karmapa antwortete: „Wir brauchen dies nicht zu versprechen, haben wir ihnen doch in der Vergangenheit nie geschadet und werden es auch in Zukunft nie tun!” Er erklärte sich bereit, jeder Aufforderung des Dalai Lama nachzukommen, um seine Aufrichtigkeit in diesem Punkt zu beweisen.[6]
Die Minister des Dalai Lama sahen in Karmapas Antwort jedoch keine eindeutige Stellungnahme, sich nicht im Konflikt mit den Gelukpas zu engagieren, obwohl Karmapa bereits vor den Angriffen unmissverständlich beteuert hatte, dass er sich friedlich verhalten werde. Die Mongolen griffen Karmapas Zeltlager an. Viele kamen dabei ums Leben und auch Karmapa entging nur knapp dem Tode. Er riet seinen Anhängern, die überlebt hatten, sich im Land zu verteilen und floh (der Legende nach flog er) mit einem Diener nach Li-Jiang im heutigen Yunnan, wo sie vom König, der bereits sein Schüler war, empfangen wurden. In Tibet kam eine Zeit der Verfolgung der Kagyüpas, Sakyapas, Jonangpas und Nyingmapas. Tausend Mönche wurden getötet, Überlebende gezwungen, zu den Gelukpas zu konvertieren. 47 Klöster Karmapas und Shamar Rinpoches wurden konfisziert und dem Gelbmützenorden einverleibt.
Karmapa nahm in Li-Jiang seine übliche Aktivität wieder auf, lehrte, gründete Praxisstätten und gab Gelübde und Ordinationen.
In Tibet war die Macht des Dalai Lama weitgehend konsolidiert. Allerdings gab es noch vereinzelt Revolten gegen die neuen Machthaber. Dalai Lama beantwortete eine solche, die je nach Quelle 1660 oder 1674 in Gyaeltang stattfand, mit den Worten:
„[Von denen in] der Bande der Feinde, die die Verpflichtungen, die man ihnen anvertraut hat, missachtet haben: Sollen die männlichen in ihren Reihen wie Bäume werden, denen man die Wurzeln abgeschnitten hat. Und die weiblichen in ihren Reihen wie Bäche, die im Winter ausgetrocknet sind. Die Kinder und Enkel sollen gegen Felsen geschmetterten Eiern gleichen. Und die Diener und das Gefolge Grasbündeln, die das Feuer verbrannt hat. Ihre Macht werde wie eine Lampe, deren Öl verbraucht ist. Kurz: Vernichtet alle Spuren von ihnen, sogar ihre Namen.“[7]
Der Aufstand wurde entsprechend ohne jede Gnade niedergeschlagen. Kollmar-Pollenz von der Université Fribourg kommentiert:
„Keine Rede ist hier von einem Verzicht auf physische Gewaltanwendung. Die Quellen sprechen eine deutliche Sprache: Physische Gewalt zur Durchsetzung politischer Interessen gehörte zum Handlungsbereich des Dalai Lama wie auch anderer religiöser Persönlichkeiten der Zeit. Aber nicht nur physisch ausgeübte Gewalt spielte im damaligen Tibet eine wichtige Rolle, sondern auch strukturelle Gewalt. Unter ‚struktureller Gewalt‘ sollen hier Machtstrukturen verstanden werden, die einen dominanten Diskurs begründen helfen und durch die auf Andere Druck ausgeübt wird, dass sie sich an diesen Diskurs anpassen [müssen].“[8]
Auch den Angriff auf Gyelyang, der mit der fast vollkommenen Auslöschung der Karma-Kagyü-Schule dort endete, war vom Fünften Dalai Lama selbst befohlen worden.[9]
Karmapa beantwortet Gewalt mit Gewaltverzicht
Als die Mongolen erfolglos auch Li-Jiang angriffen, wohin der 10. Karmapa geflohen war, bot der König des Landes diesem an, Tibet mit 300.000 Mann anzugreifen, um die Karma-Kagyü-Linie wieder zu stärken und ihn zum Herrscher Tibets zu machen. Doch Karmapa erinnerte ihn an die Prinzipien der Gewaltlosigkeit und überzeugte den Herrscher, dass er den Angriff besser unterließe.
Da der Vertreter Karmapas in Tsurphu, Gyaltsab Rinpoche, mit dem Dalai Lama verwandt war, konnte er erwirken, dass man 21 der 47 beschlagnahmten Karma-Kagyü-Klöster dem Orden wieder zurückgab – allerdings nicht ohne sie vorher des größten Teils ihrer Reichtümer zu berauben, wie Richard Snellgrove bemerkt.[10]
Nach dreißig Jahren Exil konnte der 10. Karmapa in den 1770er Jahren in sein Stammkloster in Tsurphu zurückkehren. Er traf sich mit dem Fünften Dalai Lama, der ihn in allen Ehren empfing und sogar Belehrungen von ihm erbat: Karmapas Status war von Seiten der Politik wiederhergestellt.[11]
1645 hatte der Fünfte Dalai Lama den Neubau des Potala-Palasts in Auftrag gegeben, den die Macht der Dalai Lamas nun auch äußerlich in Szene setzte. Er etablierte viele Gesetze, die die Macht der Gelukpa-Klöster ausweitete. Auch etablierte er neue Klöster und reorganisierte das System der wirtschaftlichen Unterstützung dieser, indem er vielen großen Gelukpa-Klöstern Leibeigenen zusprach. Manche sahen darin einen genialen Schachzug eines großen Bodhisattva (eines Bodhisattva, der Leineigene verpflichtet…), da er seine Macht fortan ohne größere kriegerische Auseinandersetzung sichern konnte. Doch in Wirklichkeit führte dies zu einer noch größeren Vermengung von spiritueller und politischer Macht: Die Regierung schaffte eine neue Ideologie, die sie „chösi nyitrel“ nannte, was man mit „dharmische und politische Belange vereint“ übersetzen könnte.[12] Oft genug ging dies auf Kosten des Dharma, da die Klöster immer weltlicher ausgerichtet wurden.
Die frühe Gelukpa Regierung „legte auch die optimale Zahl an Mönchen für bestimmte Klöster fest und berechtigte diese, Kinder ihrer Leibeigenen zu Mönchen zu machen, wenn diese Zahlen nicht erreicht wurden.“[13]
Das größte Gelukpa Kloster Drepung mit seinen damals über 4200 Mönchen hatte damals 553 Familien als Leibeigene, im 20. Jahrhundert wuchs die Zahl auf 20.000 an.[14] Umgekehrt limitierte man nach Rückkehr des 10. Karmapa die erlaubte Anzahl an Ordinationen pro Kagyü-Kloster und Jahr: Nur noch drei neue Mönche oder Nonnen durften aufgenommen werden.
Historiker Sam van Schaik sieht darin das Ende des religiösen Pluralismus in Zentral-Tibet:
„Der Endsieg der Geluk-Schule, den sie der Armee der Qoshot-Mongolen verdankten, läutete dem nicht-sektiererischen Ideal die Totenglocke. Von diesem Zeitpunkt an bestimmte die Regierung der Dalai Lamas und die großen Klöster Drepung, Ganden, Sera und Tashi Lhunpo die religiöse und kulturelle Entwicklung in Zentral-Tibet. Allerdings führte dies gleichzeitig in Kham zu einer kulturellen Bereicherung: Als das Große Zeltlager des Karmapa von den mongolischen Streitkräften vernichtet wurde, floh Karmapa nach Osten.“[15]
Der 5. Dalai Lama – der auch als der Große Fünfte bekannt wurde – war sicher eine äußerst charismatische Persönlichkeit und verband – wie später viele Meister, die sich politischer Einflussnahme nicht enthalten konnten – hohe Verwirklichung mit militärischem Engagement. Er war ein Schüler der Dzogtschen-Meister des Klosters Mindröl Ling, dem wichtigsten Kloster der Nyingma-Schule. In gewisser Weise waren die Nyingma-Lehrer sogar seine wichtigsten Lehrer.[16] Die „geheime Biographie“ des Fünften Dalai Lama beschreibt seine zahlreichen Visionen von Padmasambhava. Sein trauriges Engagement zugunsten des Krieges sowie seine Teilnahme an den schwarzmagischen Ritualen gegen seine Feinde werden heute allerdings oft verschwiegen. Die offizielle Homepage des 14. Dalai Lama beschränkt sich darauf, über diese Zeit zu schreiben:
„Der Fünfte Dalai Lama wurde in einer Zeit politischer Unruhe anerkannt. Wie dem auch sei, Gushri Khan, der Chef der Qoshot-Mongolen beendete diese Zeit der Unsicherheit und 1642 wurde der Dalai Lama (…) als der spirituelle und politische Führer Tibets inthronisiert.“[17]
Auch der derzeitige 14. Dalai Lama versäumt es, das nicht gerade pazifistische Engagement seiner fünften Inkarnation zu kritisieren: Thomas Laird schreibt in Conversations with the Dalai Lama:
„“‚Der Dritte Dalai Lama arbeitete dafür, den Dharma unter den Mongolen zu verbreiten‘ sagt er [der 14. Dalai Lama]‚ und viele von ihnen wurden seine Schüler, was wiederum seine Macht stärkte. Dies half den Weg dafür zu bereiten, dass der Fünfte Dalai Lama Tibet einen konnte.“[18]
Nicht nur, dass hier die hunderte oder tausende von Toten übersehen werden, die einem höheren Ziel – der Einheit Tibets – geopfert wurden: Noch dazu ist dies historisch unzutreffend, da, wie Schaik[19] bereits nachgewiesen hat, der König von Tsang schon zuvor das Land – ebenso brutal - „geeint“ hatte – und, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, diese Einheit nur von kurzer Zeit war.
Der 5. Dalai Lama führte, wie wir gesehen haben, ein anderes trauriges Novum ein: Eine Hatz gegen den Shamarpa, die die Jahrhunderte bis in unsere Zeit überdauert hat. Um die aggressiven Kriegszüge zu seinen Lebzeiten zu legitimieren, brauchte das frischgekrönte „spirituelle und weltliche Oberhaupt Tibets“ Schuldige. Und diese fand er in erster Linie im geschlagenen König von Tsang und eben Shamarpa, obwohl, wie beschrieben, die Anschuldigungen gegen Letzteren völlig haltlos waren, da er noch viel zu jung war, um sich an den kriegerischen Machenschaften des Königs von Tsang zu beteiligen. Auch die kriegerische Politik von dessen Vorgänger hatte Shamarpa nicht gebilligt, was sich darin zeigte, dass er, wie wir gesehen haben aus Protest gegen diese nicht zu seiner Kremation erschien. Die Konflikte zwischen der zentraltibetischen Regierung und der Regierung von Tsang wurde und wird noch heute oft als Kagyü-Geluk-Konflikt banalisiert. Dies uist nicht zutreffend, da die Kagyüpas die Machtpolitik dieser beiden Könige von Tsang nicht billigten.
Auch wenn der vorliegende Text die Geschichte des Kagyü-Geluk-Konfliktes zum Thema hat beleuchte ich in dem folgenden Kapitel auch die allgemeine politische Entwicklung Tibets. Wen dies nicht interessiert: Für das eigentliche Thema ist der Abschnitt über die Nepalesische Invasion in Tibet und das Verbot der Inthronisierung Shamarpas, über die Rime-Bewegung , sowie über die Entwicklungen ab 1929 relevant.
Fußnoten
Die ausführlichen Buchtitel finden Sie in der Rubrik Bibliographie.
[1] Schaik 2011, S. 122.
[2] Kangding Tib.: heute: Dartsedo
[3] Kollmar-Paulenz 2005.
[4] Zit. nach Kollmar-Paulenz 2005.
[5] Wobei der Dalai Lama nicht einmal Oberhaupt der Gelug-Schule ist, das traditionell vom Ganden Tripa geleitet wird. Auch wurde bald der Pantschen Lama – ebenfalls von einer äußeren Macht, in dem Fall den Chinesen – wichtige spirituelle Macht zugesprochen. Im heutigen Karmapa-Konflikt wird oft angeführt, der Dalai Lama hätte Kandidat Ogyen Trinle als Karmapa bestätigt. In spiritueller Hinsicht haben ihn die Karma-Kagyüs nie darum gebeten, denn diese Funktion ist politischer Natur: Zur Zeit des siebten Dalai Lama Kalsang Gyamtso bestimmte dessen wichtigster Minister Sönam Topgyal, dass alle Regierungsbeamten Gelugpas sein mussten. Auch wurde beschlossen, dass die Inkarnationen der anderen buddhistischen Schulen des Landes das Bestätigungs-Siegel des Dalai Lama zu erbitten hätten. Diese Regelung wurde aber de facto selten und im Falle des Karmapa nie angewandt. Erst mit der neuerlichen Unabhängigkeit Tibets im Jahr 1912 bestimmte die Regierung des 13. Dalai Lama, dass Tulkus aller Schulen von ihr anerkannt werden müssten. (Dazu ausführlich der Antropologe Geoffrey Brian Samuel in: "Affirmation of Geoffrey Brian Samuel," Lama vs. Hope and Ors, CIV-2004404-001363, High Court of New Zealand Auckland Registry, November 11, 2004.)
[6] Douglas/White: Karmapa: The Black Hat Lamas of Tibet, S. 86.
[7] Autobiographie des 5. Dalai Lama, Engl. Übers. Sperling, Elliot : Orientalism and Aspects of Violence in the Tibetan Tradition, in: Thierry Dodin and Heinz Raether (Hrsg.), Imagining Tibet - Perceptions, Projections, and Fantasies, Boston, 2001
[8] Zit. nach Kollmar-Paulenz 2005.
[9] Autobiographie des 5. Dalai Lama, nach: Schwieger, Peter 2015.
[10] Snellgrove/Richardson 2003, S. 196.
[11] Dies blieb auch in den folgenden Jahrhunderten so, da die Karma-Kagyü – wie alle anderen Schulen außer der Gelukpa-Schule – jeglichen politischen Einfluss verloren hatte. Die Kagyü- – und in noch größerem Maße die Nyingma-Schule waren in Zentral-Tibet äußerst geschwächt und verlagerten ihre Aktivität nach Kham, wo die Zentralregierung wenig oder keinen Einfluss hatte. Die Jonang-Schule verschwand damals fast gänzlich und überlebte nur in den Grenzgebieten Tibets.
[12] Goldstein1989, S. 3. Eine detaillierte Beschreibung des Systems der Leibeigenschaft findet sich dort auf S. 13ff.
[13] Goldstein, Meryl : A History of Modern Tibet, 1913–1951, 1989, S. 2.
[14] Dung dkar [Dunggar] 1983, S. 107, zit. in: Grunfeld, T.: Tibet: Myth and Realities, New China 1(3), 1975, S. 17-20. , S.17 in: Goldstein, Meryl : A History of Modern Tibet, 1913–1951, S. 34.
[15] Schaik, S. 162.
[16] Darin ähnelt ihm der heutige Dalai Lama, der viele Übertragungen von Dilgo Khyentse Rinpoche bekam.
[17] http://www.dalailama.com/biography/the-dalai-lamas#5
[18] Laird, Thomas: The Story of Tibet: Conversations with the Dalai Lama, Grove/Atlantic 2007, S. 145:
[19] Schaik 2011, S. 117.