Zwei Kandidaten für den 16. Karmapa
Rohfassung
Einer der Reformer in Dalai Lamas Kabinett war Finanzminister Lungshar, ein „vorausschauende Favorit des Dalai Lama, der sich der Etablierung einer starken Zentralregierung widmete.“1 Er war überzeugt, dass wenn Tibets Regierung überleben wolle, sie demokratisiert werden müsse. Schließlich hatte er einige Zeit in Europa verbracht, wo es ihm aufgefallen war, dass die Könige Italiens und Frankreichs hingerichtet worden waren, während dieses Schicksal dem englischen König erspart blieb, da er das Land in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt hatte.2
Ende der zwanziger Jahre fragte das Religionsministerium des Dalai Lama die Administration des Klosters Tsurphu nach Hinweisen auf die Wiedergeburt des 1924 verstorbenen 15. Karmapa Khakhyab Dordje. Leider hatte man noch keine derartigen Hinweise, weswegen der Sohn Lungshars 1929 oder 19303 zum 16. Karmapa erklärt wurde. Dies war bereits über Jahrhunderten in Tibet eine gängige Praxis: Um die Stellung einer Familie oder die Macht einer Person zu stärken, ernannte man einfach einen der Söhne zu einem hohen Tulku...
„Der dreizehnte Dalai Lama hatte indes seine eigenen politischen Gründe, dem Antrag des Ministers zuzustimmen. Nach Jahrhunderten, in denen Tibet ein Satellit Chinas war, konnte er 1913 die Unabhängigkeit des Landes erklären und die kleine chinesische Garnison in Lhasa zu vertreiben. Geschwächt durch innere Kämpfen im Gefolge des Sturzes des letzten Qing Kaisers "Henry" Puyi zwei Jahre zuvor konnte die neue nationalistische chinesische Regierung diesen Zug nicht durch Gewalt verhindern. Aber die Nationalisten erkannten nie Tibets Unabhängigkeit an, und behaupteten weiterhin, dass das Land ein Teil Chinas sei.
Der Dalai Lama wusste, dass Chinas Schwäche eine seltene Gelegenheit war, der Welt vorzuführen, dass Tibet ein unabhängiger Staat war.“
„Die Lhasa Regierung hoffte auch, die verschiedenen Gebiete, in denen die ethnischen Tibeter lebten, zu einer moderne Nation zu vereinigen. Aufgrund seiner strategischen Bedeutung wollte der Dalai Lama mehr Kontrolle über Kham, wo der Karmapa stark war“, so Khenpo Chödtraks weitere Analyse. ...“
Der Dalai Lama wollte Kham als Puffer gegen die Chinesen nutzen und daher seinen Einfluss auf das Land vergrößern...
„Vielleicht gegen sein besseres geistiges Urteil, aber aufgrund zwingender politischer Gründe, war der Dalai Lama also bereit, sich in die Wahl des Karmapa einzumischen.“4
Schließlich fand man mit etwas Verzögerung den Prophezeiungsbrief des 15. Karmapa. Man informierte die Behörden in Lhasa, die allerdings antworten: "Das Büro des Dalai Lama hat bereits eine Entscheidung gefasst, sie kann nicht mehr revidiert werden." Schließlich starb Lungshars Sohn tragisch, woraufhin der echte 16. Karmapa anhand des Briefes gefunden wurde.
Lungshar selbst wurde nach dem Tod des Dalai Lama angeklagt, versucht zu haben, einen Putsch zu initiieren. Ihm wurden als Strafe die Augen ausgerissen.5
Für weiteres Hintergrundmaterial bitte hier klicken.
1Goldstein, S. 98.
2Goldstein, S. 161.
3Die Aufzeichnungen der Regierung sind diesbezüglich unklar (Khenpo Chödrak in: Curren, S. 75
4Erik Curren: Buddha's not Smiling, S. 75. Chodraks Aussagen stützen sich auf ein Buch von Topga Rinpoche sei, das dieser 1994, in New Delhi veröffentlichte: Tam natshok ktm tog ge rimo or Assorted Tales on· the Art of Thinking. Topga wiederum stützt sich auf die Notitzen, die Karmapas Generalsekretär in den 1920er Jahren im Kloster Tsurphu niederschrieb.
5Weitere Informationen zu Lungshar: http://materialien-karmapa-kontroverse.weebly.com/zwei-kandidaten-fuumlr-den-16-karmapa.html