Die Wirren des 18. Jahrhunderts
Nach dem Tod des Fünften Dalai Lama 1682 entstand ein Machtvakuum. Sein Desi (Regent) Sangye Gyamtso hielt den Tod nicht weniger als 15 Jahre geheim, führte die Amtsgeschäfte weiter und behauptete, Seine Heiligkeit sei in Retreat. Die Tibeter mögen dies vielleicht noch geglaubt haben, doch die Mongolen taten es nicht. Daher fand der Desi einen Doppelgänger, der mongolische Delegationen empfing. Erst im Alter von 16 Jahren wurde der Sechste Dalai Lama von der Bevölkerung und dem Mongolenherrscher Lajang Khan in Lhasa willkommen geheißen. Ein Jahr zuvor, 1696, war der Potala fertig gestellt worden, das Symbol der Macht der Dalai Lamas. Doch der neue Dalai Lama konnte und wollte nicht in die Fußstapfen seines Vorgängers treten: Zum einen waren die Mongolen nicht gewillt ihn anzuerkennen, zum anderen verspürte er keinerlei Berufung für das klösterliche Leben – eine der Grundpfeiler der Schule, die auch als „Schule der Tugendhaften“[1] bezeichnet wird. Und so wurde der Sechste Dalai Lama hauptsächlich durch seine Gesänge berühmt:
„Ich ging zu einem qualifizierten Lama
und bat ihn, meinen Geist zu führen;
aber mein Geist hielt nicht still
und wanderte immer zu meiner Geliebten “
Als militärische Schutzmacht mischten sich die Qoshot Mongolen unter Gushri Khan wenig in die tibetische Politik ein. Unter seinem Nachfolger, Lajang Khan, wurde dies anders: Er setzte den Regenten Sangye Gyamtso ab und ließ ihn umbringen. Den Sechsten Dalai Lama erklärte er für die falsche Inkarnation und inthronisierte einen Dalai Lama von seinen eigenen Gnaden. Lajang Khan selbst wurde de facto Staatschef... Aufgrund des Widerstands der Äbte der Klöster Drepung, Ganden und Sera sowie des Panchen Lama-Klosters Tashilunpo,so Den Hoet, „verbündete sich Khan mit dem chinesischen Kaiser Kang-Xi: Lhabsang Khan solle Jamyang Gyamtso nach Peking bringen lassen und dafür freie Hand in Tibet bekommen. In Lhasa brach Aufruhr aus. Um Blutvergießen zu vermeiden, stellte sich der [echte Sechste] Dalai Lama den Mongolen.“ [2] Sie wollten ihn in die Mongolei entführen. Doch man kam nicht weit, der Sechste Dalai Lama verschied unterwegs in der tibetischen Region Lithang.
Diese Begebenheiten beschrieb auch der portugiesische Missionar Estevao Carcela in seinen Reiseaufzeichnungen:
„Der Khan machte einen Mönch eines entsprechenden Alters [tatsächlich seinen eigenen Sohn Yesche Gyatso] zum Großen (Dalai) Lama und inthronisierte ihn. Aber der Tod (des eigentlichen) Großen Lama führte zu großer Trauer unter den Tibetern und besonders zu unerbittlichem Hass unter den tibetischen Mönchen. Sie wollten ihn vom Throne heben, aber vorerst waren sie hilflos, bis sie Hilfe von außen suchten und fanden...“[3]: Der Klerus der großen Gelukpa Klöster Drepung, Sera und Ganden baten die Junghar Mongolen um Beistand gegen den Chef der Qoshot Mongolen Lajang. Mönche der drei großen Geluk-Klöster wurden dazu von den neuen Verbündeten als Soldaten ausgebildet und kämpften Seite an Seite mit ihnen! 1717 ritten sie auf Lhasa und nahmen die Hauptstadt ein.
Mit diesem Sieg begannen neue Verfolgungen: Die Nyingma-Schule war neuerlich das Opfer. Einige ihrer wichtigsten Nyingma-Klöster wurden zerstört und sogar eine heilige Höhle, in der Padmasambhava meditiert hatte, verwüstetet. Lotschen Dharmashri, einer der größten Gelehrten der damaligen Zeit, wurde exekutiert: Ein beachtlicher Teil der Gelukpas bezweifelten die Authenzität der Termas, „Schätze“, d.h. Praktiken oder Texte, die Padmasambhava versteckt hatte und die immer wieder von Tertöns Schatzauffindern gefunden wurden[4] und brandmarkten sie im wahrsten Sinne des Wortes als häretisch. Die Nähe des Fünften Dalai Lamas zu den Nyingmapas war ihnen ein Dorn im Auge gewesen.[5]
Einmischung seitens der chinesischen Manchu-Dynastie
Angesichts des Widerstands im Lande hatte Lajang Khan, wie wir gesehen haben, den Kanxi Kaiser (1661–1722) der Manchu[6] gebeten, ihm militärisch zu Hilfe zu kommen. Die Nachricht, dass „das Problem“ bereits gelöst sei, erreichte die Truppen nicht mehr vor ihrem Ankommen in Tibet. Sie kehrten allerdings nicht unverrichteter Dinge wieder um: Um den immer wachsenden Hass gegen die Gewaltherrschaft Lajang Khans zu zügeln, brachten sie den inzwischen gefundenen Siebten Dalai Lama Kelsang Gyatsho nach Lhasa und lösten die Junghar Mongolen als Machthaber ab.
Auch dieser Dalai Lama wurde zuerst nicht weltlicher Herrscher, stattdessen wurde ein Laie, Polhan, König. Er herrschte bis 1747 und in dieser Zeit genoss Tibet eine Zeit relativen Friedens und der Toleranz wischen den buddhistischen Schulen Tibets, wobei die Sakya-, Kagyü- und Nyingma-Traditionen, die allerdings – außer vielleicht in Ost-Tibet – gänzlich aufgehört hatten, eine politische Rolle im Lande zu spielen.
Nach Polhans Tod wurde dessen Sohn Staatschef und missbrauchte seine Macht derart, dass er von den chinesischen Ambans ermordet wurde. Die Tibeter, die den Staatschef zwar nicht mochten, duldeten dennoch diese chinesische Einmischung nicht und antworteten mit einer Revolte, die den Tod der Ambans zur Folge hatte. Die chinesische Regierung entsandten als Antwort erneut eine Armee nach Lhasa und besetzten es. Allerdings waren sie nicht daran interessiert, das Land direkt zu regieren, sondern machten 1751 den Siebten Dalai Lama doch noch zum Staatschef. Sie führten allerdings einige Neuerungen ein, die eine zu starke Machtkonzentration in der Hand des Regierungschefs verhindern sollte: Seine Macht wurde jedoch durch die Kontrolle eines Ministerrates, des „Kashag“ kontrolliert, der die alltäglichen Amtsgeschäfte des Landes übernahm. Diese Regierungsform wurde für 200 Jahre bis zur „kommunistischen“ Machtübernahme in den 1950ern beibehalten. „Dies erlaubte es den Manchus, Tibet in ihren Einflussbereich zu halten, ohne dass sie es direkt regieren mussten. Dennoch wurde in Lhasa eine chinesische Garnison errichtet. China erhob keine Steuern, Tibet hatte seine eigene Regierung, Religion und Sprache und die chinesischen Ambans spielten nur eine geringe Rolle in der tibetischen Politik. Sie fungierten eher als Beobachter, die dem Kaiser (nicht immer wahrheitsgetreu) Bericht erstatteten.“[7]
Der Pantschen Lama – die neue Nummer Zwei im Lande
Gleichzeitig etablierten die Chinesen zur Vermeidung einer zu starken Konzentration der Macht in den Händen weniger ein neues Machtzentrum:
„Um eine Macht im Lande zu haben, die jene [des Dalai Lama] in der dGe-lugs-pa Hierarchie ausbalancierte, erwirkte es der [chinesische] Kaiser, dass der Pan-chen Lama Patriarch weltliche und administrative Macht bekam. Daher machte ihn ... der Kaiser zum Herrscher über gTsang und West-Tibet.“[8] Kham war von den Manchus annektiert worden, regierte sich aber de facto selbst.[9] Die Macht des Dalai Lama war also auf Zentral-Tibet beschränkt, auch wenn er auf andere Gebiete durch lose Bündnisse durchaus Einfluss ausübte.
Eine neue Weltmacht betritt die Bühne in Tibet
Während Zentral-Tibet unter der Herrschaft des Dalai Lama enge Bande mit den Chinesen hatte, unterhielt der Pantschen Lama, der in Tashi Lungpo (Tsang) residierte, gute Kontakte mit den Briten. Nachdem alle politischen Konkurrenten der anderen Schulen ausgeschaltet waren, kam es innerhalb der Gelukpas zu wachsenden Spannungen und Streitigkeiten. Das Verhältnis zwischen Pantschen Lamas und Dalai Lamas war alles andere als immer harmonisch – nicht zuletzt weil ihn die Chinesen zum Herrscher über Tsang und West-Tibet gemacht hatten. Aufgrund seiner guten Verbindungen zum chinesischen Hof wurde er als Vertreter Tibets zu den Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag des Kaisers eingeladen. Der Pantschen Lama verstarb in China an Pocken. Manche behaupten, der Pantschen Lama sei wegen seinen engen Beziehungen zu den Briten vergiftet worden.[10] Ohne dies vertiefen zu wollen und der Problematik noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, zeigt es sich ein weiteres Mal, dass Tibet nach wie vor Spielball anderer, militärisch stärkerer Mächte war und das Land mit der Machtübernahme des Fünften Dalai Lamas keinesfalls zu einem Hort des Friedens geworden war.
[1] Auch wenn das „Ge“ in „dGe Lugs Pa“ „gelb“ bedeutet (Gelbmützenorden) – und nicht wie das dge in „Gendün“ „Tugend“ bedeutet.
[2] Michael den Hoet: Die Linie der Dalai Lamas – Teil 2, in: http://www.buddhismus-heute.de/archive.issue__33.position__12.de.html
[3] Der Jesuit Estevao Cacela der im 18. Jh. Tibet bereiste, zit. Nach: Kappstein, S. 156.
[4] König Trsiong Detsen holte Padmashambhava und Shantarakshita im 8. Jh. nach Tibet und bat sie, den Buddhismus im Land zu verbreiten, was sie mit großem Erfolg taten. Aus ihren Lehren entstand die Nyingmapas („Alte Schule“). Padmasambhava sah die baldige Zerstörung des Dharma in Tibet voraus und versteckte wichtige Texte, die Termas. Tatsächlich begann der auf Detsen folgende König Langdarma eine Jagd auf die Buddhisten, es heißt. Es habe nur noch vier Mönche im Lande gegeben, die gerade ausreichten, um weiterhin die volle Ordination zu geben. Die Übertragung der vollen Nonnenordination ging verloren, da es anscheinend nicht mal mehr vier Nonnen gab.
[5] Wie wir gesehen haben kam es zur Amtszeit des Fünften Dalai Lama zu einer starken Verfolgung der Nyingmapas, obwohl das der Lama von einigen Nyingmapa-Lehrern ausgebildet worden war.
[6] Die Manchu Dynastie (auch Qing-Dynastie genannt) herrschte 1644-1911 über China. Tibet, die Mongolei und die Manchuei wurden Protektorate.
[7] Schaik, S. 145.
[8] Snellgrove/Richardson, S. 220.
[9] Schaik S. 160: „Kham [war] eine Region locker verbundener Königreiche, die nie wirklich von einem anderen Reich annektiert werden konnte. Die berühmten vier Flüsse und die Berge Khams waren eine hervorragende Barriere gegen alle Versuche, es zu erobern und die Grausamkeit der Khampa-Reiter war in ganz Tibet bekannt. Jeder Khampa trug ein Schwert, oder zumindest ein Messer, auch die Mönche. Im 19. Jh. Wurde das Land mit Gewehren überschwemmt. Gewalt drohte überall, während jeder Reise lief man Gefahr von Banditen überfallen zu werden und jedes Trinkgelage konnte in eine Rauferei oder sogar zu Mord ausarten. Fehden zwischen Ortschaften konnten Generationen andauern und die Kämpfe zwischen ihnen waren meist tödlich.“
[10] Dunghel, S. 191/192