Thangkha des 10. Shamarpa
Nepalesische Invasion in Tibet und das Verbot der Inthronisierung Shamarpas
Spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts war Shamarpa der Regierung in Lhasa ein Dorn im Auge. Entsprechend verbot sie die Suche nach der Wiedergeburt des 9. Shamarpa.[1] Obwohl er dennoch gefunden wurde, konnte er nicht inthronisiert werden und verschied sehr früh.[2] Die Inthronisation des 10. Shamarpa war anscheinend nur möglich, da er sich als Bruder des Pantschen Lama inkarnierte.
Der Pantschen Lama selbst starb, wie im vorigen Kapitel beschrieben, in China. Tshungpa Hutukhtu, der andere Bruder des Pantschen Lama und Schatzmeister seines Klosters Tashi Lungpo, reiste anschließend nach China, um die Asche des Verstorbenen abzuholen. Die Regierung des Reiches der Mitte überreichte ihm als Abfindung – schließlich war er auf ihr Ersuch hin nach China gereist – je nach historischer Quelle 10.000 bis 50.000 Goldstücke. 1780 verschloss er diese in den Tresoren seines Klosters. Shamarpa sah sich als rechtmäßiger Erbe des Verstorbenen und forderte seinen Anteil der Erbschaft, Hutukhtu verweigerte ihm dies jedoch mit der Begründung, das Geld sei dem Kloster zugedacht gewesen und verweigerte seinem Bruder Zutritt zu Tashi Lungpo.
Später warf man dem Shamarpa vor, er habe sich des Eigentums des Klosters bemächtigen wollen, doch „die offiziellen chinesischen Aufzeichnungen beschuldigen den Regenten [Hutukhtu]… Ihnen zufolge war Tchungpa Hutukhtu eine Art Pfennigfuchser, der, als er nach dem Tod des Pantschen Lama nach Tashilungpo zurückkehrte, dessen Reichtümer an sich nahm und sie nicht den Gepflogenheiten entsprechend entweder an das Kloster oder die Tempel verteilte. Außerdem ließ er seinem jüngeren Bruder, dem Shamarpa, keine Güte zukommen [d.h. verweigerte ihm seinen Anteil], da er der Rothut-Schule angehörte.“[3]
Auch wenn besonders offizielle Quellen der Gelukpas und der Chinesen behaupten, Shamarpa sei daraufhin nach Nepal gegangen und habe ihnen voller Groll von den versiegelten Schätzen Tashi Lungpos und besonders von dem übertriebenen Reichtümern Tchungpa Hutukhtus erzählt, sehen nepalische Quellen einen anderen Grund für Shamarpas Abreise:
„Nach dem plötzlichen Tod des Pantschen Lama wurde Shamarpa der Anführer der pro-britischen Fraktion des Klosters. Deswegen galt er fortan sowohl den Chinesen als auch den Tibetern als Verräter. Da er in Tibet eine ungewisse Zukunft hatte, floh er 1784 nach Nepal, um sein Leben zu schützen.“[4]
Seit dem Sechsten Shamarpa bestand zwischen den sukzessiven Inkarnationen des Rot-Hut-Lamas und dem nepalesischen Königshaus ein gutes Verhältnis und viele Nepalesen waren Schüler der Shamarpas. Ein weiteres Grund für die Reise des 10. Shamarpa nach Nepal – oder vielleicht auch nur sein Resultat – war die Renovierung der Swayambhu-Stupa im Kathmandutal.
In Nepal angekommen gaben er und seine Gehilfen dem Maharaja [Herrscher] von Nepal den geschriebenen Eid, ihm treu und verbunden zu sein: „Wir unterstützen nicht länger das chinesische Lhasa [die von den Chinesen unterstützte Regierung des Dalai Lama] und werden stattdessen Untertanen Ihrer Gurkha-Majestät [des nepalesischen Königs].“[5] Dies wurde Shamarpa seitens der tibetischen Regierung als „Verrat“ angelastet, aber möglicherweise rangen die Nepalis Shamarpa dieses Versprechen nur ab, um sich abzusichern, dass Shamarpa kein tibetischer Agent sei, da die beiden Nationen im Streit lagen:
1769 hatten die Gurkhas, die bis dahin nur über das Kathmandu-Tal geherrscht hatten, ganz Nepal besetzt und auch Mustang und die tibetische Provinz Dölpo annektiert.[6] 1775 baten die Bhutanesen die Gurkhas, Sikkim anzugreifen. Die Tibeter halfen den Sikkimesen mit Lebensmittellieferungen. Der Konflikt wurde später beigelegt, aber die Gurkhas nahmen den Tibetern ihre Hilfe übel.
Ein weiterer Streitpunkt war wirtschaftlicher Natur: Die Nepalis zahlten die tibetischen Waren, die sie importierten, entweder mit Reis oder einer nepalesischen Silberwährung, die auch in Zentral-Tibet zu einem gängigen Zahlungsmittel wurde. Über die Jahre mischten die Nepalis aber diesen Silbermünzen immer mehr Kupfer bei und entwerteten so das Geld. Die tibetische Regierung protestierte, und der Konflikt eskalierte. Nepal griff seinen nördlichen Nachbar an, wurde aber zurückgeschlagen. Schließlich kam es unter Vermittlung von Shamarpa zu einem Waffenstillstand[7] und der Aushandlung eines Friedensabkommens, das dem unterlegenen Tibet wie in solchen Fällen üblich hohe Tributzahlungen auferlegte. Als Kunga Päldjor, auch Doringpa genannt, der ranghöchste Minister im Kabinett in Lhasa, im darauffolgenden Jahr nach Nepal reiste, um den Vertrag nachzuverhandeln, da er für Tibet nicht bezahlbar war, wurde er gefangen genommen. Als Tibet die Zahlungen einstellten, kam es zu einer zweiten Invasion seitens der Nepalesen. Die Tibeter holten die chinesische Armee zu Hilfe: 17.000 Soldaten kamen und es war so ein Leichtes, die Nepalis zurückzuschlagen – erst 50km vor Kathmandu machte man Halt. Dabei wurde Doringpa befreit. In seinem Tagebuch beschreibt dieser, wie der besiegte nepalesische König anschließend alle Schuld für den Angriff Shamarpa aufbürdete. Noch dazu war das Gerücht in die Welt gesetzt worden, Shamarpa hätte sich umgebracht, was nach Doringpa nicht der Wahrheit entsprach: „Der chinesische General fragte ihn rundheraus nach dem Grund für Shamarpas Tod und Doringpa antwortete, dass es keine Zeichen dafür gab, dass dieser sich das Leben genommen habe. Auch war sein Körper nicht im Geringsten verletzt.“[8] Die Tagebücher Shamarpas persönlichen Arztes Kunga Päldän sprechen darüber hinaus von der langjährigen Krankheit, die seinem Tod vorausging.[9]
Der Arzt schrieb abschließend in seinen Aufzeichnungen, dass man, statt die Schuld Shamarpa aufzubürden, sie bei den „hinterlistigen Gurkhas“ suchen solle. Es sei wie das tibetische Sprichwort sagt: „Wenn das Schaf vom Wolf getötet ist, sucht man die Schuld dem Fuchs“ [10], wobei in Tibet der Fuchs nicht wie in unserem Kulturraum als hinterlistig angesehen wird.“
Einige Gelehrte, die Doringpas Schriften gelesen haben, sind der Meinung, dass Shamarpa von allen Beteiligten ausgenutzt wurde: Dem chinesischen Kaiser, der Tibetischen Regierung und dem Gurkha König.[11]
Doringpa selber beschreibt, wie sich Shamarpa bei der Nepalesischen Regierung für seine Freilassung eingesetzt habe. Nach dem Tod Shamarpas versuchte die Nepalesische Regierung ihn für den Konflikt verantwortlich zu machen, aber Doringpa glaubte ihr nicht.[12]
Nachdem er allerdings der Verbrennung beiwohnte änderte sich seine Meinung über Shamarpa grundsätzlich und bereute seine Meinung über Shamarpa.[13] Er schreibt: „Am nächsten Tag gingen wir zur Kremation. Als die Flammen hochschossen, strahlten fünf Regenbögen direkt vom Feuer. Wir waren alle Augenzeugen.“[14] Er war tief beeindruckt und verspürte tiefe Hingabe zu Shamarpa.
Trotz der Zeugnisse Doringpas, die besagen, dass er am Leichnam keine Zeichen einer unnatürlichen Todesursache feststellen konnte, sowie der Tatsache, dass er darüber hinaus der nepalesischen Regierung widersprach, die Shamarpa für den Angriff auf Tibet verantwortlich machte, behielt die chinesische Geschichtsschreibung die Theorie bei, Shamarpa habe sich vergiftet und gemeinsam mit den Gurkhas den König der Manchu-Dynastie bekämpft. [15]
In Folge verbot die Zentralregierung in Lhasa, weitere Inkarnationen Shamarpas zu inthronisieren. Zu all dem sagte im Nachhinein der 16. Karmapa: „Es gab immer weniger positive Kraft (Verdienst). Die Politik mischte sich immer mehr ein. Weiß wurde zu schwarz, wahr wurde unwahr. Damals war es nicht mehr möglich, einen Shamarpa anzuerkennen oder zu inthronisieren. Alles wurde geheim gehalten. Shamarpa reinkarnierte weiterhin, wurde aber nicht anerkannt.”[16]
Bemerkenswert ist, dass dieser Abschnitt der tibetischen Geschichte immer wieder im Zusammenhang mit der Karmapa-Kontroverse unserer Tage herangezogen wird, um den derzeitigen Shamarpa in Bezug auf seine Wahl bezüglich des 17. Karmapa zu diskreditieren. Keiner käme jedoch auf die Idee, die Taten des 5. Dalai Lama und dessen nicht gerade friedvollen Aussagen zu nutzen, in gleicher Weise die Entscheidung des heutigen 14. Dalai Lama bezüglich der Wiedergeburt des 16. Karmapa (er unterstützt Ogyen Trinle) in Frage zu stellen. Beides ist ähnlich widersinnig.
In diesem Zusammenhang ist auch interessant, wie Chögyam Trungpa Rinpoche die Politik der tibetischen Regierung einschätzte: „In dieser Epoche war das Königreich der zentraltibetischen Regierung paranoid und versuchte andauernd, alle Regionen zu kontrollieren, wo ein lokaler Lehrer Macht über die Menschen hatte. Die Zentralregierung erachtete dies als ausgesprochen negativ. Zu einem Zeitpunkt wurde der Hut eines der Regenten der Linie – Shamarpa – angeblich unter einem Tempel in Lhasa (dem Johkhang) vergraben, sodass alle über ihn liefen, wenn sie auf Pilgerreise dorthin kamen. Viele solcher Dinge ereigneten sich. Es ist wahr, dass diese Art von Dingen weitergingen und es ist schlimm, dass sie sich in der buddhistischen Welt ereigneten. Dennoch existierten diese Probleme.“[17]
Chinesischer Einfluss auf die Tibetische Politik
Wie weit die Chinesen in den darauf folgenden Jahrzehnten wirklich die tibetische Politik beeinflussten, ist umstritten. Sicher ist, dass sie als Gegenleistung für ihren Beistands im tibetisch-nepalesischen Krieg verstärkte Macht für die beiden Ambane im Land forderten. Außerdem verlangten sie, bei der Bestimmung politisch einflussreicher Tulkus mitzubestimmen:
Michael den Hoet:
„Kaiser Chien Lung war aufgefallen, wie viele offizielle Wiedergeburten es innerhalb weniger Familien-Clans gegeben hatte. So war z. B. der 8. Dalai Lama 1762 in einer Familie, die mit dem damaligen 6. Panchen Lama eng verbunden gewesen war, gefunden worden; den 7. Panchen Lama wiederum entdeckte man dafür in der Familie des 8. Dalai Lama, ebenso wie den wichtigsten Titelträger der Chalka-Mongolen, den Jetsün Dampa Tulku. Der chinesische Monarch befürchtete Manipulationen bei der Ernennung mächtiger Tulkus, was sich womöglich auch auf Peking ausgewirkt hätte, wo sich ständig hohe Gelugpa-Lamas am Hof der Mandschu befanden, die teilweise als spirituelle Lehrer der kaiserlichen Familie fungierten.“[18]
Wie wir gesehen hatten, waren der Panchen Lama, der 10. Shamarpa, der Trunpa Hutunku, Geschwister. Ihre selten erwähnte außergewöhnliche Schwester galt als Ausstrahlung Dorje Pagmos.
1793 erwirkte daher Kaiser Chihichen Lung, dass das System der „goldene Urne“ eingeführt wurde:
„Im Beisein der Ambane sollten unter 3 Namen von in Frage kommenden Kindern aus diesem Gefäß ausgelost werden. Dieses Lotterieverfahren fand bei der Kür der Wiedergeburten der Dalai Lamas Nr. 10, 11 und 12 Anwendung. Auch der 8. und der 9. Panchen Lama wurden per Los ermittelt.“[19]
Gleichzeitig wurde ein neues Gesetz erlassen: Der Dalai Lama durfte nicht mehr aus Adelsfamilien stammen.
Da die künftigen Dalai Lamas (9-12) kaum das Erwachsenenalter erreichten – manche wurden angeblich ermordet – blieb die Macht in der Hand von Regenten. Im 19. Jahrhundert war der chinesische Einfluss im Land gering und beschränkte sich neben der beschriebenen Einflussnahme beispielsweise auf die Wahl der Tulkus auf Handelsbeziehungen, denn ihr Interesse galt u.a. den tibetischen Pferden. Die Macht der Gelukpas war entsprechend fast uneingeschränkt. Es war im Übrigen die einzige Zeit, in der der spätere Mythos von Tibet als „verbotenes Land“ wirklich zutraf: Ab 1850 war es Ausländern verboten, das Land zu betreten.
Während das System von den Tributzahlungen und Steuern der Bewohner des feudalen Landes gezahlt wurden, entstand ein Machtgefüge, in dem auch adlige Familie wichtige Positionen einnahmen. Gleichzeitig wurden die Geluk-Klöster Ganden, Sera und Drepung wichtige Zentren der Macht, über die sich die Zentralregierung weder innen- noch außenpolitisch gesehen hinweg setzen konnte.[20]
[1] Deshayes, S. 177. (Ausführliche Nennung der Kurztitel der Anmerkungen in der Literaturliste)
[2] Ebenda. Wong spricht allerdings davon, dass es zwei Kandidaten für den 9. Shamarpa gab, einen von Situpa und einen von Gyaltsab Rinpoche favorisierten. Der Kandidat Situpas setzte sich durch, lebte aber nur acht Jahre angeblich weil er nicht inthronisiert werden konnte.
[3] S. Cammann, Trade Through The Himalayas: The Early British Attempts to Open Tibet (Princeton 1951), Seite. 112, Cammann zitiert Sheng wu chi, 5.34b.
[4] Dhungel, S.192.
[5] Yogi, Naraharinath, ed. V.S. 2022. Itihasprakasama sandhipatra samgraha, in: Dhungel, S. 191.
[6] Snellgrove/Richardson, S. 226
[7] The young minister Kun-dga’ dpal- ’byor of the rDo-ring
[8] Doringpa nach Wong, S. 178-184.
[9] Kun dga’ dpal ldan rnam thar, fols. 50a/3–51a/3 in: Franz-Karl Ehrhard, The biography of sMan-bsgom Chos-rje Kun-dga’ dpalldan (1735–1804) as a source for the Sino-Nepalese war , in: Birgit Kellner, Helmut Krasser, Horst Lasic, Michael Torsten Much, Helmut Tauscher (Hrsg.): Pramāṇakīrtiḥ: Papers Dedicated to Ernst Steinkellner on the Occasion of His 70th Birthday, Part 1, Wien 2007, S. 115ff.
[10] Ebenda.
[11] Wong, , S. 184.
[12] Ebenda.
[13] Ebenda.
[14] Doringpa's journal, S. 733, nach Wong.
[15] Eine Bulle der Tibetischen Regierung verbot übrigens nach Shamarpas Tod strengstens, irgendewas über den 10. Shamarpa aufzuschreiben. Daher gibt es – bis auf Doringpas und Kunga Paldans Tagebücher – keine tibetischen Quellen über die Vorfälle.
[16] Douglas/White: The Black Hat Lama of Tibet, S. 151.
[17] Chögyam Trungpa: The Mishap Lineage, Transforming Confusion Into Wisdom, Shambhala 2010, S. 51.
[18] Michael den Hoet: Die Linie der Dalai Lamas - Teil 2 in: Buddhismus Heute Nr. 33, ( 2001) http://www.buddhismus-heute.de/archive.issue__33.position__12.de.html
[19] Ebenda.
[20] Siehe Snellgrove/Richardson, , S. 220 ff.
Nepalesische Invasion in Tibet und das Verbot der Inthronisierung Shamarpas
Spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts war Shamarpa der Regierung in Lhasa ein Dorn im Auge. Entsprechend verbot sie die Suche nach der Wiedergeburt des 9. Shamarpa.[1] Obwohl er dennoch gefunden wurde, konnte er nicht inthronisiert werden und verschied sehr früh.[2] Die Inthronisation des 10. Shamarpa war anscheinend nur möglich, da er sich als Bruder des Pantschen Lama inkarnierte.
Der Pantschen Lama selbst starb, wie im vorigen Kapitel beschrieben, in China. Tshungpa Hutukhtu, der andere Bruder des Pantschen Lama und Schatzmeister seines Klosters Tashi Lungpo, reiste anschließend nach China, um die Asche des Verstorbenen abzuholen. Die Regierung des Reiches der Mitte überreichte ihm als Abfindung – schließlich war er auf ihr Ersuch hin nach China gereist – je nach historischer Quelle 10.000 bis 50.000 Goldstücke. 1780 verschloss er diese in den Tresoren seines Klosters. Shamarpa sah sich als rechtmäßiger Erbe des Verstorbenen und forderte seinen Anteil der Erbschaft, Hutukhtu verweigerte ihm dies jedoch mit der Begründung, das Geld sei dem Kloster zugedacht gewesen und verweigerte seinem Bruder Zutritt zu Tashi Lungpo.
Später warf man dem Shamarpa vor, er habe sich des Eigentums des Klosters bemächtigen wollen, doch „die offiziellen chinesischen Aufzeichnungen beschuldigen den Regenten [Hutukhtu]… Ihnen zufolge war Tchungpa Hutukhtu eine Art Pfennigfuchser, der, als er nach dem Tod des Pantschen Lama nach Tashilungpo zurückkehrte, dessen Reichtümer an sich nahm und sie nicht den Gepflogenheiten entsprechend entweder an das Kloster oder die Tempel verteilte. Außerdem ließ er seinem jüngeren Bruder, dem Shamarpa, keine Güte zukommen [d.h. verweigerte ihm seinen Anteil], da er der Rothut-Schule angehörte.“[3]
Auch wenn besonders offizielle Quellen der Gelukpas und der Chinesen behaupten, Shamarpa sei daraufhin nach Nepal gegangen und habe ihnen voller Groll von den versiegelten Schätzen Tashi Lungpos und besonders von dem übertriebenen Reichtümern Tchungpa Hutukhtus erzählt, sehen nepalische Quellen einen anderen Grund für Shamarpas Abreise:
„Nach dem plötzlichen Tod des Pantschen Lama wurde Shamarpa der Anführer der pro-britischen Fraktion des Klosters. Deswegen galt er fortan sowohl den Chinesen als auch den Tibetern als Verräter. Da er in Tibet eine ungewisse Zukunft hatte, floh er 1784 nach Nepal, um sein Leben zu schützen.“[4]
Seit dem Sechsten Shamarpa bestand zwischen den sukzessiven Inkarnationen des Rot-Hut-Lamas und dem nepalesischen Königshaus ein gutes Verhältnis und viele Nepalesen waren Schüler der Shamarpas. Ein weiteres Grund für die Reise des 10. Shamarpa nach Nepal – oder vielleicht auch nur sein Resultat – war die Renovierung der Swayambhu-Stupa im Kathmandutal.
In Nepal angekommen gaben er und seine Gehilfen dem Maharaja [Herrscher] von Nepal den geschriebenen Eid, ihm treu und verbunden zu sein: „Wir unterstützen nicht länger das chinesische Lhasa [die von den Chinesen unterstützte Regierung des Dalai Lama] und werden stattdessen Untertanen Ihrer Gurkha-Majestät [des nepalesischen Königs].“[5] Dies wurde Shamarpa seitens der tibetischen Regierung als „Verrat“ angelastet, aber möglicherweise rangen die Nepalis Shamarpa dieses Versprechen nur ab, um sich abzusichern, dass Shamarpa kein tibetischer Agent sei, da die beiden Nationen im Streit lagen:
1769 hatten die Gurkhas, die bis dahin nur über das Kathmandu-Tal geherrscht hatten, ganz Nepal besetzt und auch Mustang und die tibetische Provinz Dölpo annektiert.[6] 1775 baten die Bhutanesen die Gurkhas, Sikkim anzugreifen. Die Tibeter halfen den Sikkimesen mit Lebensmittellieferungen. Der Konflikt wurde später beigelegt, aber die Gurkhas nahmen den Tibetern ihre Hilfe übel.
Ein weiterer Streitpunkt war wirtschaftlicher Natur: Die Nepalis zahlten die tibetischen Waren, die sie importierten, entweder mit Reis oder einer nepalesischen Silberwährung, die auch in Zentral-Tibet zu einem gängigen Zahlungsmittel wurde. Über die Jahre mischten die Nepalis aber diesen Silbermünzen immer mehr Kupfer bei und entwerteten so das Geld. Die tibetische Regierung protestierte, und der Konflikt eskalierte. Nepal griff seinen nördlichen Nachbar an, wurde aber zurückgeschlagen. Schließlich kam es unter Vermittlung von Shamarpa zu einem Waffenstillstand[7] und der Aushandlung eines Friedensabkommens, das dem unterlegenen Tibet wie in solchen Fällen üblich hohe Tributzahlungen auferlegte. Als Kunga Päldjor, auch Doringpa genannt, der ranghöchste Minister im Kabinett in Lhasa, im darauffolgenden Jahr nach Nepal reiste, um den Vertrag nachzuverhandeln, da er für Tibet nicht bezahlbar war, wurde er gefangen genommen. Als Tibet die Zahlungen einstellten, kam es zu einer zweiten Invasion seitens der Nepalesen. Die Tibeter holten die chinesische Armee zu Hilfe: 17.000 Soldaten kamen und es war so ein Leichtes, die Nepalis zurückzuschlagen – erst 50km vor Kathmandu machte man Halt. Dabei wurde Doringpa befreit. In seinem Tagebuch beschreibt dieser, wie der besiegte nepalesische König anschließend alle Schuld für den Angriff Shamarpa aufbürdete. Noch dazu war das Gerücht in die Welt gesetzt worden, Shamarpa hätte sich umgebracht, was nach Doringpa nicht der Wahrheit entsprach: „Der chinesische General fragte ihn rundheraus nach dem Grund für Shamarpas Tod und Doringpa antwortete, dass es keine Zeichen dafür gab, dass dieser sich das Leben genommen habe. Auch war sein Körper nicht im Geringsten verletzt.“[8] Die Tagebücher Shamarpas persönlichen Arztes Kunga Päldän sprechen darüber hinaus von der langjährigen Krankheit, die seinem Tod vorausging.[9]
Der Arzt schrieb abschließend in seinen Aufzeichnungen, dass man, statt die Schuld Shamarpa aufzubürden, sie bei den „hinterlistigen Gurkhas“ suchen solle. Es sei wie das tibetische Sprichwort sagt: „Wenn das Schaf vom Wolf getötet ist, sucht man die Schuld dem Fuchs“ [10], wobei in Tibet der Fuchs nicht wie in unserem Kulturraum als hinterlistig angesehen wird.“
Einige Gelehrte, die Doringpas Schriften gelesen haben, sind der Meinung, dass Shamarpa von allen Beteiligten ausgenutzt wurde: Dem chinesischen Kaiser, der Tibetischen Regierung und dem Gurkha König.[11]
Doringpa selber beschreibt, wie sich Shamarpa bei der Nepalesischen Regierung für seine Freilassung eingesetzt habe. Nach dem Tod Shamarpas versuchte die Nepalesische Regierung ihn für den Konflikt verantwortlich zu machen, aber Doringpa glaubte ihr nicht.[12]
Nachdem er allerdings der Verbrennung beiwohnte änderte sich seine Meinung über Shamarpa grundsätzlich und bereute seine Meinung über Shamarpa.[13] Er schreibt: „Am nächsten Tag gingen wir zur Kremation. Als die Flammen hochschossen, strahlten fünf Regenbögen direkt vom Feuer. Wir waren alle Augenzeugen.“[14] Er war tief beeindruckt und verspürte tiefe Hingabe zu Shamarpa.
Trotz der Zeugnisse Doringpas, die besagen, dass er am Leichnam keine Zeichen einer unnatürlichen Todesursache feststellen konnte, sowie der Tatsache, dass er darüber hinaus der nepalesischen Regierung widersprach, die Shamarpa für den Angriff auf Tibet verantwortlich machte, behielt die chinesische Geschichtsschreibung die Theorie bei, Shamarpa habe sich vergiftet und gemeinsam mit den Gurkhas den König der Manchu-Dynastie bekämpft. [15]
In Folge verbot die Zentralregierung in Lhasa, weitere Inkarnationen Shamarpas zu inthronisieren. Zu all dem sagte im Nachhinein der 16. Karmapa: „Es gab immer weniger positive Kraft (Verdienst). Die Politik mischte sich immer mehr ein. Weiß wurde zu schwarz, wahr wurde unwahr. Damals war es nicht mehr möglich, einen Shamarpa anzuerkennen oder zu inthronisieren. Alles wurde geheim gehalten. Shamarpa reinkarnierte weiterhin, wurde aber nicht anerkannt.”[16]
Bemerkenswert ist, dass dieser Abschnitt der tibetischen Geschichte immer wieder im Zusammenhang mit der Karmapa-Kontroverse unserer Tage herangezogen wird, um den derzeitigen Shamarpa in Bezug auf seine Wahl bezüglich des 17. Karmapa zu diskreditieren. Keiner käme jedoch auf die Idee, die Taten des 5. Dalai Lama und dessen nicht gerade friedvollen Aussagen zu nutzen, in gleicher Weise die Entscheidung des heutigen 14. Dalai Lama bezüglich der Wiedergeburt des 16. Karmapa (er unterstützt Ogyen Trinle) in Frage zu stellen. Beides ist ähnlich widersinnig.
In diesem Zusammenhang ist auch interessant, wie Chögyam Trungpa Rinpoche die Politik der tibetischen Regierung einschätzte: „In dieser Epoche war das Königreich der zentraltibetischen Regierung paranoid und versuchte andauernd, alle Regionen zu kontrollieren, wo ein lokaler Lehrer Macht über die Menschen hatte. Die Zentralregierung erachtete dies als ausgesprochen negativ. Zu einem Zeitpunkt wurde der Hut eines der Regenten der Linie – Shamarpa – angeblich unter einem Tempel in Lhasa (dem Johkhang) vergraben, sodass alle über ihn liefen, wenn sie auf Pilgerreise dorthin kamen. Viele solcher Dinge ereigneten sich. Es ist wahr, dass diese Art von Dingen weitergingen und es ist schlimm, dass sie sich in der buddhistischen Welt ereigneten. Dennoch existierten diese Probleme.“[17]
Chinesischer Einfluss auf die Tibetische Politik
Wie weit die Chinesen in den darauf folgenden Jahrzehnten wirklich die tibetische Politik beeinflussten, ist umstritten. Sicher ist, dass sie als Gegenleistung für ihren Beistands im tibetisch-nepalesischen Krieg verstärkte Macht für die beiden Ambane im Land forderten. Außerdem verlangten sie, bei der Bestimmung politisch einflussreicher Tulkus mitzubestimmen:
Michael den Hoet:
„Kaiser Chien Lung war aufgefallen, wie viele offizielle Wiedergeburten es innerhalb weniger Familien-Clans gegeben hatte. So war z. B. der 8. Dalai Lama 1762 in einer Familie, die mit dem damaligen 6. Panchen Lama eng verbunden gewesen war, gefunden worden; den 7. Panchen Lama wiederum entdeckte man dafür in der Familie des 8. Dalai Lama, ebenso wie den wichtigsten Titelträger der Chalka-Mongolen, den Jetsün Dampa Tulku. Der chinesische Monarch befürchtete Manipulationen bei der Ernennung mächtiger Tulkus, was sich womöglich auch auf Peking ausgewirkt hätte, wo sich ständig hohe Gelugpa-Lamas am Hof der Mandschu befanden, die teilweise als spirituelle Lehrer der kaiserlichen Familie fungierten.“[18]
Wie wir gesehen hatten, waren der Panchen Lama, der 10. Shamarpa, der Trunpa Hutunku, Geschwister. Ihre selten erwähnte außergewöhnliche Schwester galt als Ausstrahlung Dorje Pagmos.
1793 erwirkte daher Kaiser Chihichen Lung, dass das System der „goldene Urne“ eingeführt wurde:
„Im Beisein der Ambane sollten unter 3 Namen von in Frage kommenden Kindern aus diesem Gefäß ausgelost werden. Dieses Lotterieverfahren fand bei der Kür der Wiedergeburten der Dalai Lamas Nr. 10, 11 und 12 Anwendung. Auch der 8. und der 9. Panchen Lama wurden per Los ermittelt.“[19]
Gleichzeitig wurde ein neues Gesetz erlassen: Der Dalai Lama durfte nicht mehr aus Adelsfamilien stammen.
Da die künftigen Dalai Lamas (9-12) kaum das Erwachsenenalter erreichten – manche wurden angeblich ermordet – blieb die Macht in der Hand von Regenten. Im 19. Jahrhundert war der chinesische Einfluss im Land gering und beschränkte sich neben der beschriebenen Einflussnahme beispielsweise auf die Wahl der Tulkus auf Handelsbeziehungen, denn ihr Interesse galt u.a. den tibetischen Pferden. Die Macht der Gelukpas war entsprechend fast uneingeschränkt. Es war im Übrigen die einzige Zeit, in der der spätere Mythos von Tibet als „verbotenes Land“ wirklich zutraf: Ab 1850 war es Ausländern verboten, das Land zu betreten.
Während das System von den Tributzahlungen und Steuern der Bewohner des feudalen Landes gezahlt wurden, entstand ein Machtgefüge, in dem auch adlige Familie wichtige Positionen einnahmen. Gleichzeitig wurden die Geluk-Klöster Ganden, Sera und Drepung wichtige Zentren der Macht, über die sich die Zentralregierung weder innen- noch außenpolitisch gesehen hinweg setzen konnte.[20]
[1] Deshayes, S. 177. (Ausführliche Nennung der Kurztitel der Anmerkungen in der Literaturliste)
[2] Ebenda. Wong spricht allerdings davon, dass es zwei Kandidaten für den 9. Shamarpa gab, einen von Situpa und einen von Gyaltsab Rinpoche favorisierten. Der Kandidat Situpas setzte sich durch, lebte aber nur acht Jahre angeblich weil er nicht inthronisiert werden konnte.
[3] S. Cammann, Trade Through The Himalayas: The Early British Attempts to Open Tibet (Princeton 1951), Seite. 112, Cammann zitiert Sheng wu chi, 5.34b.
[4] Dhungel, S.192.
[5] Yogi, Naraharinath, ed. V.S. 2022. Itihasprakasama sandhipatra samgraha, in: Dhungel, S. 191.
[6] Snellgrove/Richardson, S. 226
[7] The young minister Kun-dga’ dpal- ’byor of the rDo-ring
[8] Doringpa nach Wong, S. 178-184.
[9] Kun dga’ dpal ldan rnam thar, fols. 50a/3–51a/3 in: Franz-Karl Ehrhard, The biography of sMan-bsgom Chos-rje Kun-dga’ dpalldan (1735–1804) as a source for the Sino-Nepalese war , in: Birgit Kellner, Helmut Krasser, Horst Lasic, Michael Torsten Much, Helmut Tauscher (Hrsg.): Pramāṇakīrtiḥ: Papers Dedicated to Ernst Steinkellner on the Occasion of His 70th Birthday, Part 1, Wien 2007, S. 115ff.
[10] Ebenda.
[11] Wong, , S. 184.
[12] Ebenda.
[13] Ebenda.
[14] Doringpa's journal, S. 733, nach Wong.
[15] Eine Bulle der Tibetischen Regierung verbot übrigens nach Shamarpas Tod strengstens, irgendewas über den 10. Shamarpa aufzuschreiben. Daher gibt es – bis auf Doringpas und Kunga Paldans Tagebücher – keine tibetischen Quellen über die Vorfälle.
[16] Douglas/White: The Black Hat Lama of Tibet, S. 151.
[17] Chögyam Trungpa: The Mishap Lineage, Transforming Confusion Into Wisdom, Shambhala 2010, S. 51.
[18] Michael den Hoet: Die Linie der Dalai Lamas - Teil 2 in: Buddhismus Heute Nr. 33, ( 2001) http://www.buddhismus-heute.de/archive.issue__33.position__12.de.html
[19] Ebenda.
[20] Siehe Snellgrove/Richardson, , S. 220 ff.